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Bislang sind zu Guido Renis spätem Gemälde Bacco e Arianna 4 Versionen bekannt, mit denen sich die Literatur befasst, nämlich die 2 Gemälde Luca (Rom, Accademia di San Luca) und Montecitorio (Rom, Palazzo Montecitorio) sowie die 2 Stiche von Frey und Bolognini. Mit dem Katalog zu der Ausstellung Bacco e Arianna di Guido Reni 2018 in Bologna sind weitere 2 Gemälde bekannt geworden, und zwar Rio (einst in Rio di Janeiro) und erstmals nun Arianna Stuttgart (Stuttgart, Privatbesitz; Katalog S. 47). Die Existenz von Rio in Südamerika wurde schon manchmal genannt, doch eine Fotografie wurde bisher nicht veröffentlicht.
Arianna Stuttgart wurde 1893 bei Christies in London erworben und befindet sich seither im Familienbesitz. Für die Zeit davor ist nichts bekannt. Das Bild wurde noch nie gezeigt. Die Fachwelt hat daher diese Version, die bedeutsame neue Informationen bietet, noch nicht würdigen können.
Die 6 Versionen weisen eine bestimmte Reihenfolge ihrer Entstehung auf, die den Werdegang des Originals nachverfolgbar macht. Der äußere Vergleich zeigt sofort 3 wesentliche Merkmale der Versionen, nämlich
1. Format,
2. Proportion,
3. Figuren,
und lässt soweit Übereinstimmung oder Abweichung erkennen.
Der genauere Vergleich lässt Unterschiede und Änderungen im Detail erfassen, die bestimmte Folgerungen erlauben. Soweit auf einer Version Pentimente ersichtlich sind, lassen sie vergleichen, ob bestimmte Details auch auf anderen Versionen in gleicher oder anderer Art behandelt sind. Besonders aufschlussreich sind Pentimente, die unter dem aktuellen Zustand einen geänderten früheren Zustand erkennen lassen. Sie sind für eine Datierung oder Zuordnung nützlich, und sie helfen, frühere und spätere Zustände auf anderen Versionen zu erkennen und zu unterscheiden. Danach können die Versionen zeitlich zueinander eingeordnet werden.
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Alle 6 Versionen wollen das einstige Original zu Renis berühmten Gemälde Bacco e Arianna, das 1638 von der englischen Königin Henriette bei Reni in Auftrag gegeben wurde, wiedergeben. Das Gemälde diente ihnen dabei entweder unmittelbar, oder in einer zeitnahen Kopie, als Vorlage.
Reni begann sein großes Gemälde wohl 1638 in Bologna. 1640 kam das Bild nach Rom. 1642 wurde es an Henriette abgeschickt, die nun in Paris lebte, da in England Revolution ausgebrochen war. Die weitere Geschichte ist dunkel. Felibien berichtet 1685, eine prüde Witwe d´Emery habe 1650 in Paris das Bild in Stücke zerschnitten. Dass die Stücke auch verbrannt wurden, schreibt allein Malvasia 1678, der dem Geschehen sehr viel ferner stand
Datiert ist allein der Stich von Frey, mit „Rom, Oktober 1727“, als das Original wohl längst nicht mehr existierte, sich jedenfalls nicht mehr in Rom befand. Der Stich kann daher nur den Stand einer früheren Kopie (möglicherweise Rio) wiedergeben. Für die anderen 5 Versionen lässt sich kein absolutes Datum angeben. Sie können nur relativ zueinander aus dem Vergleich datiert werden und in eine mögliche zeitliche Reihenfolge gebracht werden.
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Die 5 undatierten Versionen sind nicht alle zugleich und nicht in einem Zug entstanden. Soweit Pentimente auf einer Version vorhanden sind, bedeuten sie, dass an dieser Version über einen gewissen Zeitraum gearbeitet wurde. Der Vergleich zeigt diverse Unterschiede bei den Versionen, die eine längere Entwicklung der Vorlage belegen. Daraus lässt sich auch eine bestimmte zeitliche Reihenfolge der 6 Versionen herleiten, die jeweils den aktuellen Stand ihrer Vorlage widerspiegeln. Das zeigt für die Vorlage über einen gewissen Zeitraum 6 Zustände und damit eine Entwicklung, von Zustand „Luca“ über Zustand “Montecitorio“ bis Zustand „Frey“. Dabei ergibt der Zustand Frey nichts Neues, denn Frey hält sich bei seinem Stich mit der überschwänglichen Widmung an Reni sicher genau an seine Vorlage. Das könnte Rio, wenn sich das Bild 1727 in Rom befand, oder eine gleichartige Kopie gewesen sein.
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Die 6 Versionen haben unterschiedliches Format, wobei die Stiche naturgemäß kleiner sind als die Gemälde. Die Bilder haben folgende Maße und Proportionen:
Luca: 284 x 419 cm; 1 / 1,47
Montecitorio: 95 x 132 cm; 1 / 1,38
Rio: 150 x 338 cm; 1 / 2,2
Arianna Stuttgart: 145 x 320 cm; 1 / 2,2
Bolognini: 49 x 103 cm; 1 / 2,1
Frey: 45 x 89 cm; 1 / 1,97
Aus der Größe allein lässt sich wenig herleiten. Luca präsentiert sich als größtes, Montecitorio als kleinstes Gemälde, während Rio und Arianna Stuttgart wie Zwillinge fast gleiche Maße aufweisen. Doch da anzunehmen ist, dass das Bild einer Kopie nicht größer ausfällt als die Vorlage, kann aus Luca auf die Maße der Vorlage und damit auf die Mindestgröße des Originals geschlossen werden.
Bei Arianna Stuttgart fehlt am linken Rand gegenüber Rio ein Streifen von ca. 20 cm, den auch Bolognini nicht kennt..
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Die Proportionen der Versionen unterscheiden sich, doch bei 4 Versionen gleichen sie sich weitgehend, nämlich mit etwa 1 / 2,2. Der größte Unterschied mit 1 / 1,47 bei Luca erklärt sich leicht, wenn Luca als eine spezielle Kopie für Kardinal Sacchetti nur 4 Hauptfiguren genau wiedergeben sollte. Also kann angenommen werden, dass auch die Vorlage im Format 1 / 2,2 gehalten war. Damit ergibt sich, aus Luca übertragen mit 284 cm x 2,2, für das Original die mögliche Größe (Mindestgröße) von 284 x 636 cm.
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Zahl und Anordnung der Figuren stimmen bei 4 Versionen überein; nur Luca und Montecitorio weichen ab.
Bei Luca fehlen am Himmel die Pudicizia und die Vittoria. In der linken unteren Ecke fehlt der Amorino, der die Rebe hält. In der Mitte fehlt der Faun mit den Trauben. Das Fehlen dieser Figuren könnte auf die gewollte Beschränkung auf 4 Hauptfiguren zurückzuführen sein, oder darauf, dass sie auf der Vorlage noch nicht vorhanden waren, was wohl eher anzunehmen ist.
Bei Montecitorio fehlt nur der Traubenfaun, die 3 anderen Figuren sind vorhanden.
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Pentimente deuten Verbesserungen an. Auf Arianna Stuttgart kommen Pentimente in großer Zahl zum
Vorschein. Über 50 Änderungen sind mit bloßem Auge leicht festzustellen. Davon sollen hier nur ca. 30 vorgestellt werden. Sie lassen einen älteren Zustand erkennen, der in der aktuellen Fassung von Arianna Stuttgart übermalt ist. Zu vielen Pentimenten finden sich auf den anderen Versionen an diesen Stellen entsprechende Details, die dort noch den älteren Zustand aufweisen. Diese Pentimente bedeuten also nicht nachträgliche Korrekturen von Fehlern des Bearbeiters, sondern bewusste Änderungen, die sich durchaus als Verbesserung erweisen. Sie dürften gleiche Änderungen auch auf der Vorlage. widerspiegeln. Das belegt, dass die Vorlage nicht rasch und zügig entstand, sondern kritisch und penibel erarbeitet und oft überarbeitet wurde. Der Bearbeiter von Arianna Stuttgart hat dabei das Werden der Vorlage aufmerksam begleitet und Änderungen dort getreulich auf seiner Kopie nachgetragen. – Denkbar ist auch das umgekehrte Verfahren: Arianna Stuttgart diente dem Maler als Skizze zum Bild, als Entwurf, auf dem zunächst auch jeweils die Änderungen eingetragen wurden, bevor sie dann im Original nachvollzogen wurden.
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Vergleiche und die Pentimente bei Arianna Stuttgart ordnen die 6 Versionen in diese Reihenfolge ein:
1. Luca
2. Montecitorio
3. Rio
4. Bolognini
5. Arianna Stuttgart
6. Frey
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Vergleiche und die Pentimente bei Arianna Stuttgart zeigen auch die Entwicklung der Vorlage von Luca bis Arianna Stuttgart.
a) Bei Luca fehlen noch 4 Figuren. Das blaue Tuch des Bacco weht hoch über seine linke Schulter (L1) (ebenso noch deutlich bei Arianna Stuttgart Pentiment P13). Die Ebbrezza hat noch kein Kopfband (L2) und kein Band um die linke Schulter (L3); ihr rechter Fuß steht dicht am linken Fuß (L4).
b) Bei Montecitorio sind 3 Figuren hinzugekommen; nur der Traubenfaun fehlt noch. Das Schultertuch des Bacco ist flacher geworden (M1). Der Zweig der Vittoria schneidet den rechten Flügel (M2). Die Ebbrezza ist gegenüber Luca an den 3 Stellen verändert; sie hat ein Kopfband (M3) und ein Tuch über der linken Schulter (M4), ihr rechter Fuß steht höher (M5). Das Tamburin des Tänzers ist geschlossen (M6). Dem entspricht die Stellung des linken Daumens des Tänzers in P27.
c) Rio bringt gegenüber Montecitorio deutliche Änderungen. Neben der Burg sind schwach 2 Figuren angedeutet (R1). Die Rebe links unten zeigt steil nach oben (R2). In der Mitte ist der Traubenfaun eingefügt (R4), dazu links an seinem Rücken eine Pflanze (R3). Das Mädchen mit der Korbflasche hat 2 Rückenschleifen (R5). Das Tamburin des Tänzers ist offen (R6). Am Boden liegt ein geschlossenes Tamburin (R7).
d) Frey bringt weitere Änderungen, die er nicht von Rio übernommen haben kann. Neben der Burg steht ein Baum (F1). Die rechte Hand des Knaben mit der Stange ist tiefer (F2). Unter der Arianna wachsen Blätter aus dem Boden (F3). Der linke Oberschenkel der Venus ist fülliger (F4). Nur 1 Finger des Bacco weist nach unten (F5). Neben dem Tamburin liegen 2 Muscheln (F6). Dies macht es wenig wahrscheinlich, in Rio die Vorlage für Frey zu sehen.
d) Bolognini folgt Rio und Frey und zeigt weitere Änderungen, die ohne Arianna Stuttgart nicht als bewusste Korrektur der Vorlage zu erkennen wären. Hier einige Beispiele:
Das Tuch der Arianna unter dem rechten Bein wird dunkel (B1). Ihr linker Oberschenkel bekommt eine Schattenkontur (B3). Der Felsblock zu ihren Füßen wird geteilt (B2). Die Pflanze am Rücken des Traubenfauns ist entfernt (B4). Der Schwertgriff wurde einfacher (B5). Der linke Fuß des trinkenden Knaben ist weiter zurückgenommen (B6). Die Rückenschleifen beim Mädchen und bei der Vittoria wurden entfernt (B7 und B10). Das Tamburin am Boden ist offen (B8). Der rechte Fuß des Tänzers zeigt nun nach unten (B9). – Die geänderte Anordnung einiger Figuren beruht auf der Einfügung des Wappens.
e) Bei Arianna Stuttgart fällt sogleich die veränderte Beinstellung des Bacco ins Auge. Das Bild zeigt außerdem weitere markante Änderungen in Details, die auch bei Bolognini noch nicht zu finden sind.
30 Änderungen P1 bis P30, meist mit Pentimenten, sind bei Arianna Stuttgart leicht zu erkennen:
P1: Finger der Pudicizia einst länger (so bei Bolognini).
P2: Hand des Knaben nun tiefer.
P3: Felsen unter Ellbogen der Arianna breiter.
P4: Das Tuch unter dem rechten Bein der Arianna abgedunkelt, dann ein Streifen wieder aufgehellt.
P5: Schattenkontur am linken Oberschenkel der Arianna.
P6: Linker Fuß der Arianna ganz sichtbar, der Felsen geteilt.
P7: Gesicht der Venus mehrmals übermalt.
P8: Oberschenkel der Venus erweitert. Das rote Tuch schimmert noch durch.
P9 bis P11: Tuch des Bacco an 7 Stellen zurückgenommen.
P12: Alle 4 Finger des Bacco zeigen nach oben
P13: Schultertuch des Bacco tiefer (vgl L1 und Rio).
P14: Keine Pflanze.
P15: Schulter des Fauns freier.
P16: Kopf des Fauns freier.
P17: Schwert stark verändert.
P18: Fuß des Fauns reicht bis zum Knaben.
P19: Fuß des Knaben weiter zurück.
P20: Hier schnitt der Zweig der Vittoria den Flügel (vgl M2).
P21: Rechter Oberschenkel der Ebbrezza sichtbar.
P22: Linke Hand des Mädchens höher.
P23: Keine Rückenschleife bei der Vittoria.
P24: Keine Rückenschleifen beim Mädchen.
P25: Rechter Fuß des Tänzers zeigt nach unten.
P26: Rechter Fuß des Flöters zeigt nach vorn.
P27: Linker Daumen des Tänzers jetzt im Tamburin, früher höher am Tamburin (vgl M6).
P28: Das Tamburin am Boden ist offen.
P29: Rechte Finger des Tänzers geschlossen und gekürzt.
P30: Kopf des Esels berührt Bein des Tänzers.
Dazu ist noch die ursprüngliche Beinstellung des Bacco erkennbar (B31).
Ob die massive, zweifellos harmonische Änderung der Beinstellung des Bacco nur bei Arianna Stuttgart oder auch auf der Vorlage, also beim Original, vollzogen wurde, muss offen bleiben. Jedenfalls hat Chiari 1698 bei seinem Bacco-Gemälde in der Galleria Spada in Rom, das dem Reni-Bild auffallend ähnelt, dem Bacco genau diese Haltung gegeben. Das kann Zufall sein, dürfte aber eher eine bewusste Nachahmung sein. Arianna Stuttgart könnte sich dazu im Jahr 1698 durchaus in Rom befunden haben und Chiari bekannt gewesen sein.
Für die aktuelle Fassung die Version Arianna Stuttgart gibt es keine Vergleichsmöglichkeit, denn das Original ist seit Langem verschollen. Einige Stücke könnten als Fragmente des Originals überdauert haben. Falls die Version Arianna Stuttgart immer getreulich dem Original folgt, müssten die Fragmente ebenfalls deren Stand aufweisen und jeweils der Größe des Originals entsprechen. Das trifft jedenfalls auf die beiden bekannten Fragmente nicht zu.
f) Die beiden derzeit bekannten Fragmente, eine Arianna und ein Tänzer, stammen nicht von demselben Objekt. Sie haben wesentlich verschiedene Größe. Die Arianna mit der Höhe 220 cm (= Gesamthöhe des Bildes) ergäbe bei der bekannten Proportion 1 / 2,2 ein Gemälde von 220 x 485 cm, aus dem sie herausgeschnitten sein könnte. Das wäre deutlich kleiner als die Version Luca. Das Tänzerfragment mit der Höhe 254 cm, ersichtlich nur ein Ausschnitt, ergäbe eine volle Bildhöhe von 391 cm und damit bei der Proportion 1 / 2,2 ein Gemälde von 391 x 860 cm, also größer als Luca und völlig verschieden vom Ariannafragment.
Beide Fragmente zeigen auch einen frühen Stand auf, der sicher nicht dem Zustand des vollendeten Originals entspricht.
Ariannafragment: Unten links fehlen die Blätter (und die Pflanze?), die schon Frey, Bolognini und Arianna Stuttgart zeigen (FA1). Das Tuch unter dem rechten Bein ist noch nicht abgedunkelt (FA2). Der Felsen am Fuß ist nicht geteilt (FA3). Der linke Oberschenkel hat keine Schattenkontur (FA4). Der Felsen neben dem linken Fuß fällt steil ab (FA5), so nur bei Luca.
Tänzerfragment: Der rechte Fuß des Tänzers zeigt noch nach oben (TF1). Der rechte Fuß des Flöters zeigt nach links (TF2), bei Arianna Stuttgart aber nach vorn (deutlich P26). Abstand zwischen linkem Bein und Kopf des Esels (TF3); anders bei Bolognini und Arianna Stuttgart (deutlich P25).